Kathartischer Gefühlsausdruck: Heilsam oder hinderlich?

Gefühle integrieren, statt sie explodieren zu lassen – warum ein sanfter Kontakt zu deinen Emotionen so wichtig ist

Moritz Oesterlau
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Vielleicht hast du auch schon solche Ansätze kennengelernt, in denen du zu intensivem Gefühlsausdruck ermutigt wurdest: Z.B. deine Wut herauszulassen durch das Schlagen auf Kissen, durch Schreien oder andere expressive Methoden.

Das wird oft als Weg betrachtet, um angestaute Emotionen loszulassen – in der Hoffnung, den emotionalen Rucksack etwas zu erleichtern. Auch in manchen von mir angebotenen Atem-Sessions kann es zu solchen Erlebnissen kommen, wenn durch kontrollierte Hyperventilation intensive emotionale Energie freigesetzt wird.

Auch wenn es sich wunderbar lebendig anfühlt, diese Erfahrung zu machen, müssen wir etwas vorsichtig sein: Wir möchten unser Nervensystem nicht überfordern, ansonsten können wir auch Schritte rückwärts gehen. In der Nervensystemarbeit ist langsam nunmal schnell und schnell ist langsam.

Die Suche nach diesen großen kathartischen Gefühlsausbrüchen kann sogar verhindern, dass wir unsere Gefühle wirklich spüren und halten lernen.

So erging es z.B. einem meiner Klienten, der zuvor bei besagten Atemreisen solche intensiven Erfahrungen kennenlernte und nun mit meiner persönlichen Begleitung tiefer gehen wollte.

Als wir uns seiner lange unterdrückten Trauer zuwandten und – um besser mit dieser sein zu können – ich eine Hand auf sein Herz legte, meinte er: „Mhm… das klappt nicht… wenn deine Hand auf meinem Herz liegt, wird die Trauer wieder leichter.“

Ich war kurz etwas irritiert… wie, „es klappt nicht?“ 🤔

Da wurde mir klar: Er hatte erwartet, dass die Trauer intensiver, lauter und gar überwältigend werden müsste – wie bei den Atemreisen –, damit er sie loslassen könne. Dass sie stattdessen leichter wurde, war entgegen seiner Vorstellung dessen, was es brauchte. 💡

Die unausgesprochene Haltung dahinter: „Ich will die Trauer loswerden, sie soll weg. Ich „kotze“ sie nun einmal aus und bin dann frei von ihr.“

Das Problem: Er kämpfte damit gegen die Trauer an, statt sie wirklich zuzulassen. Er versuchte, sie zu verändern anstatt sie sich durch einen fördernden Kontakt aus sich selbst heraus entwickeln zu lassen. So paradox das erstmal klingen mag: Der Versuch, das Gefühl zu forcieren, war ein Weg, nicht wirklich damit zu sein.

Umso mehr er versuchte, die Trauer ganz groß zu machen, desto mehr versteckte sie sich. Und das ist nicht überraschend: In ihr liegt schließlich viel Schmerz und Verletzlichkeit. Der Versuch, den Schutz gewaltvoll aufzubrechen, ist eine Bedrohung und ruft natürlich noch mehr Schutz hervor.

Ich habe ihm daraufhin ein neues Ziel für unsere Sitzung vorgeschlagen: Lass uns stattdessen langsam machen und üben, mit dem Gefühl „zu sein“ – es besser halten lernen, anstatt es zu bekämpfen.

Wir drehten die Frage also um: Von “Was brauche ich von dem Gefühl?” („…dass es weg geht!“) zu “Was braucht das Gefühl von mir?”. 

Und siehe da: Es brauchte nicht, „weggemacht“ zu werden. Es fragte auch nichtmal danach, geheilt zu werden. Es fragte vielmehr: “Darf ich genau so sein, wie ich jetzt gerade bin?”

„Ja…“ – und es wurde weicher, echter, tiefer…

Am Ende berichtete er: „Ich glaube, ich konnte noch nie zuvor in so einem heilsamen Kontakt mit einem Gefühl in mir sein… das berührt mich sehr.“

Fazit

Bedeutet das, dass intensiver Gefühlsausdruck immer schlecht ist?

Nein. Es kann uns zurück in den Kontakt mit unserem Körper bringen. Aber es ist wichtig, dabei nicht bis in die Überforderung zu gehen und alles danach gut zu integrieren – am besten im ruhigen, achtsamen, sanften Kontakt (wie ich ihn z.B. in meiner persönlichen Begleitung anbiete).

Ein entscheidender Faktor, der darüber bestimmt, ob kathartische Gefühlsausbrüche unterstützend oder hinderlich sind, ist die Intention, mit der du diese Erfahrung suchst.

Geht es dir darum, eine schnelle Erleichterung zu forcieren, ohne dich wirklich mit den dahinter liegenden Gefühlen auseinander setzen zu wollen, kann der Ausbruch oberflächlich bleiben und langfristig wenig Veränderung bewirken.

Wird der emotionale Ausdruck jedoch als Teil eines bewussten Prozesses genutzt, um tiefer in das Gefühl einzutauchen und es zu integrieren, kann die Erfahrung eine wertvolle Unterstützung sein.

Wie sieht deine Beziehung zu deinen Gefühlen aus? Dürfen sie alle da sein, so wie sie gerade sind? Vielleicht manche mehr als andere? Was würde passieren, wenn du jede Erwartung an sie loslässt und neugierig wirst, welchen Kontakt sie von dir tatsächlich brauchen?

Schreibe mir gern: letme@feelthatshift.de

Disclaimer: Ich bin weder Arzt noch Psychotherapeut. Alle Angaben stammen aus meiner jahrelangen Recherche zu psychologischen Themen und diversen Fortbildungen und sind mit bestem Wissen und Gewissen erstellt. Solltest du Fehler entdecken, melde dich gern bei mir: kontakt@feelthatshift.de
Über den Autor

Moritz Oesterlau

Im 1:1 Coaching und in Workshops begleite ich Menschen zurück in den echten Kontakt und in eine liebevollere Beziehung zu sich selbst. Dabei schlage ich die Brücke zwischen Psychologie, Neurobiologie und östlichen Philosophien. Traumasensibel & undogmatisch.

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