Weshalb es keine Selbst­sabotage gibt und wie du in die Handlung kommst

Von inneren Konflikten, Präsenz und der Beziehung zu inneren Anteilen

Moritz Oesterlau
14.4.2022
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Ich möchte Kontakte knüpfen und Verbundenheit spüren, doch sobald es ernst wird, ziehe ich mich zurück. Ich möchte Sport treiben, aber gehe nicht. Ich sollte arbeiten, lenke mich jedoch ab. Ich möchte mir Zeit für mich nehmen, gestatte es mir aber nicht. Ich spüre das Bedürfnis, Grenzen zu setzen, gebe aber nach. So könnten wir ganze Listen füllen.

Manchmal erscheint es, als würde eine unsichtbare Kraft uns von dem abhalten, was eigentlich gut für uns wäre. Aber warum ist das so? Und wie können wir diese inneren Konflikte, die wir oft als Selbstsabotage empfinden, überwinden?

Der Schlüssel dazu ist nicht mehr Disziplin, sondern ein tieferes Verständnis für das, was in uns aus gutem Grund auf die Bremse tritt. Und dann erkennen wir: So etwas wie Selbstsabotage gibt es eigentlich nicht. Denn nichts in uns hat die Absicht, zu sabotieren – alles folgt einem legitimen Bedürfnis.

Der Begriff der Selbstsabotage ist also vielmehr eine „uninformierte Unterstellung“ und Ausdruck fehlender Präsenz mit unserem Erleben. Lass uns zunächst klären, was ich mit Präsenz meine. Anschließend schauen wir uns an, welche Schritte wir unternehmen können, um unsere Handlungsfähigkeit wiederherzustellen.

Was bedeutet es, präsent mit innerem Erleben zu sein?

Nach herkömmlichen Verständnis ist jemand nicht präsent, wenn diese Person abwesend wirkt und in Gedanken wahrscheinlich gerade woanders ist. Ist wer präsent, ist er im Kontakt und aufmerksam mit dem, was jetzt gerade passiert.

Soweit so gut, aber noch nicht wirklich hilfreich. Ich kann im Kontakt mit etwas in mir stehen, es fühlen und erkennen... verändern tut das noch nicht unbedingt viel. Es ist aber die notwendige Basis, um einen Schritt weiter gehen zu können.

In Bezug auf inneres Erleben ist Präsenz nicht nur das aufmerksam und im Kontakt sein, sondern auch das in-Beziehung-treten können. Das bedeutet, ich darf mich mit dem Erlebten nicht identifizieren. Denn setze ich es mit mir gleich, gibt es niemanden, um darauf antworten zu können.

Identifiziere ich mich zum Beispiel mit meinem Wunsch, etwas verändern zu wollen, dann kann es schnell passieren, dass ich das, was dem entgegen steht, loswerden möchte und in Konsequenz als „Saboteur“ wahrnehme – und auch so behandle. Aus der Überzeugung, die böse Intention dieses gemeinen Gegenspielers zu kennen, kann ich nicht neugierig damit werden und sorge so dafür, dass sich nichts verändern kann.

Der Beweis, dass du nicht dein Wunsch nach Veränderung bist, ist der, dass du diesen Wunsch in dir wahrnehmen kannst. Du kannst also in Beziehung treten. Wenn du der Wunsch wärest, wer würde diesen dann wahrnehmen und damit in Beziehung treten?

Mit dieser Perspektive fahren wir nun fort und versuchen, das ganze wortwörtlich zu entwickeln.

Aspekte der „Selbst­sabotage“

Wenn ich sage, „ich sabotiere mich selbst“, dann impliziert das gleich vier oder mehr Aspekte:

  1. Etwas in mir möchte etwas (Wunsch)
  2. Etwas in mir möchte das nicht (Angst, Bedenken, Sorge)
  3. Etwas in mir wirft dem, das es nicht möchte, Sabotage vor (Bewertung, Verurteilung)
  4. Und dann ist da das Selbst, das all das wahrnimmt (Bewusstsein)

Schau einmal, wie das auf eines deiner Themen passt. Gibt es noch weitere Aspekte und Dynamiken, die sich in dir abspielen?

Der Wunsch

Da ist also etwas in dir, das etwas möchte – zum Beispiel sich innig verbunden fühlen mit anderen Menschen. Dieser ist ein lebensbejahendes, auf Expansion gerichtetes Bedürfnis; dein Wunsch für die Zukunft. Gäbe es nur diesen Anteil, gäbe es keinen inneren Konflikt und du würdest dem Bedürfnis ganz natürlich folgen.

👉 Was ist dein Bedürfnis? Warum möchtest du es, was gibt es dir? Wie fühlst du dich, würdest du es ganz leben können?

Die Sorge

Dann gibt es den Anteil, der – bleiben wir bei dem Beispiel – nicht in die Verbindung gehen möchte, weil z.B. Erfahrungen gemacht wurden, die schmerzhaft waren. Umso mehr wir uns öffnen, desto verletzlicher sind wir. Verständlich also, dass etwas in uns vorsichtig ist und diesen Schmerz nicht noch einmal erleben möchte.

👉 Wende dich diesem Aspekt zu und spüre einmal nach: Welche Sorge besteht? Was könnte Schlimmes passieren? Was ist das Risiko, die Gefahr? Was könnte erneut erlebt werden?

Die Verurteilung

Identifizieren wir uns mit dem Wunsch (1) und verdrängen dabei den Schmerz (2), dann wird das Wort „Sabotage” (3) geboren. Dass etwas in uns uns sabotiert, ist keinesfalls eine neutrale Beschreibung, sondern eine Bewertung. Aber auch sie hat ihren Ursprung: Sie ist meistens Ausdruck des Ärgers und der Hilflosigkeit in Anbetracht des scheinbar unlösbaren Konflikts.

Etwas in mir will sich ändern, und etwas in mir will sich nicht ändern - was sabotiert nun was? Es gibt diese Koexistenz von gegensätzlichen Kräften, aber keine Sabotage. Wenn ich nicht Partei ergreife, d. h. mich mit einer der beiden Seiten identifiziere, würde ich diese Worte nicht verwenden, um ihr Handeln zu beschreiben.

Das Wort ist also Ergebnis unserer fehlenden Präsenz mit allen Anteilen in uns. Gingen wir in den näheren Kontakt, würden wir erfahren, dass es nie eine böswillige Sabotage gab, sondern nur den Versuch, Sicherheit zu bewahren.

👉 Was kannst du wahrnehmen, was diese ganze Dynamik mit dir macht – und das vielleicht schon seit Langem? Erkenne die Wut und Trauer darüber an; es ist kein Wunder, dass sie da ist.

Das Selbst

Und dann gibt es das Selbst; der Punkt, von dem wir all das in uns wahrnehmen können. Darin erkennen wir: Ich kann mit allem in Beziehung treten und kann antworten, es halten und – ohne es zu bewerten – präsent damit sein.

Würde ich eine Bewertung in mir vorfinden, wäre dies ein weiterer Aspekt, dem ich mich zuwenden kann. Du erinnerst: Ich nehme es wahr, also bin ich es nicht, also kann ich damit in Beziehung gehen.

👉 Kannst du den Raum spüren, in dem sich alles Erleben in dir abspielt? Wie groß ist dieser? Fällt es dir leicht, dein Erleben in dir zu halten und damit zu sein?

Falls es dir nicht leicht fällt, könnte dies ein weiterer Aspekt sein, dem es schwer fällt, damit zu sein. Damit wiederum kannst du sein. Du merkst schon, es geht um eine radikale Akzeptanz.

Heraus aus der Selbst­sabotage: Schritte zur Klarheit und Handlungs­fähigkeit

Im ersten Schritt braucht es unsere Bereitschaft, dem Paradox in uns zu begegnen. Das wird auch mit dem sperrigen Begriff der Ambiguitätstoleranz bezeichnet: Das ist die Fähigkeit, mit dem Unklaren, Ungewissen und Mehrdeutigen zu sein. Im Widerspruch nicht direkt Partei zu ergreifen und zu bewerten, abzulehnen und auszuweichen, sondern stattdessen zuzuhören, neugierig und offen zu bleiben.

Mit dem Vorwurf der Selbstsabotage ergreifen wir Partei für einen Aspekt – dem Bedürfnis – und meinen, die böswillige Intention des unserem Wunsch widersprechenden Aspekts bereits zu kennen: Sabotage! Dabei verkennen wir die große Not, die dieser in sich trägt. So nehmen wir lieber den kleineren Schmerz der ständigen Selbstbeschämung in Kauf, als einmal dem größeren Schmerz zu begegnen, der hinter dem vermeidenden Anteil schlummert.

Vorher (identifiziert)

Hier braucht es nun die Bereitschaft, innezuhalten und uns diesem Schmerz wohlwollend und verständnisvoll zuzuwenden und ihn zu spüren. Das funktioniert am besten, wenn wir nicht mit ihm identifiziert sind, sondern vom größeren, haltenden Selbst (4) aus mit ihm in Beziehung treten. Nur so ist ein echtes Selbstmitgefühl möglich.

Nachher (präsent)

Es kann natürlich auch sein, dass du etwas nicht möchtest, es aber trotzdem weiterhin tust. Das ist zum Beispiel der Fall bei nichtkörperlichen Süchten oder wenn du immer wieder in ähnlich destruktiven Beziehungsmustern landest. Hier gilt es, sich dem Anteil zuzuwenden, der es braucht und aus der Tätigkeit oder dem Umfeld ein Gefühl von Sicherheit oder andere Vorteile schöpft.

Versuche also nicht, “deine Selbstsabotage zu bekämpfen”, denn das würde nur weiteren Widerstand hinzufügen. Übe stattdessen, all den verletzten, unsicheren und ungesehenen Anteilen deiner Selbst mit Neugier und Mitgefühl zu begegnen, sodass sie gesehen werden, aufatmen und loslassen können.

Diese subtile Veränderung in der Art der Begegnung mit dir selbst hat das Potential, alles zu verändern.

P.S.: Hör dir mal von Käptn Peng „Parantatatam“ an; es beschreibt sehr schön die beschriebene Haltung der Präsenz, in der alles zum „Etwas“ wird und das sich-Widersprechende Platz finden kann. Also zu einem Objekt, mit dem das Subjekt (Selbst) in Beziehung treten kann.

Disclaimer: Ich bin weder Arzt noch Psychotherapeut. Alle Angaben stammen aus meiner jahrelangen Recherche zu psychologischen Themen und diversen Fortbildungen und sind mit bestem Wissen und Gewissen erstellt. Solltest du Fehler entdecken, melde dich gern bei mir: kontakt@feelthatshift.de
Über den Autor

Moritz Oesterlau

Im 1:1 Coaching und in Workshops begleite ich Menschen zurück in den echten Kontakt und in eine liebevollere Beziehung zu sich selbst. Dabei schlage ich die Brücke zwischen Psychologie, Neurobiologie und östlichen Philosophien. Traumasensibel & undogmatisch.

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